Grenzen verschwinden durch Bewusstsein

Ich beobachte ein Baby, das mich mit wachen Augen ansieht. Tief schaut es in mich hinein und lächelt mich an. Es ist voller Vertrauen und Liebe zu sich selbst und seiner Umgebung. Selbst wenn der große Bruder vorbeikommt und es etwas grob behandelt, sieht es ihn mit purer Liebe an. Es kennt kein Richtig und Falsch, kein Gut und Böse und kein Meins und Deins.

Ich beobachte drei Kleinkinder, die mit ihren Eltern im Wald spazieren. Sie rennen, lachen, klettern und suchen Gegenstände am Boden. Manchmal rangeln sie kurz um einen Stock, doch der nächste ist schnell gefunden. Gemeinsam erkunden sie die scheinbar unendliche Gegend, erfinden neue Spiele und fühlen sich frei.

Ich beobachte ein zweijähriges Kind, das zu Besuch bei seinem gleichaltrigen Freund ist. Auf einmal schreit einer, das sei sein Spielzeug und der andere solle es nicht haben. Und der andere schreit, er möchte aber genau dieses Spielzeug ebenfalls. Beide sind vor Wut völlig aufgelöst, ziehen sich an den Haaren und weinen. Die Erwachsenen greifen ein, schlichten und verteilen die Gegenstände gerecht. Der Streit legt sich für den Moment, doch die Situation wiederholt sich regelmäßig.

Ich beobachte ein Land, das von seinen Machthabern geteilt wird. Grenzen werden auf einer Landkarte eingezogen. Strich für Strich für Strich. Willkürlich. Vielleicht begründet mit Flüssen, Bergen oder Rohstoffen. Menschen kommen darin nicht vor. Menschen, die Freunde sind. Menschen, die eine Familie sind. Menschen, die sich jahrelang gegenseitig halfen. Und plötzlich sehe ich, wie sie alle um das kämpfen, was ihnen vermeintlich zusteht. Keiner will weniger vom Kuchen abbekommen. Keiner will auf die Rohstoffe auf der anderen Seite des Flusses verzichten. Alle sind in Angst, ihnen würde etwas weggenommen und sie würden zu wenig zum Leben behalten.

Und wo gestern Freunde waren, sehe ich heute Feinde. Menschen, die dem anderen nichts mehr zugestehen. Die sich nicht mehr helfen. Die nur noch schlechte Eigenschaften im Anderen erkennen. Die sich nicht einmal mehr ansehen können.

Ein neugeborenes Kind kennt keine Grenzen, Verbote, Einschränkungen, Unterschiede oder unüberwindbaren Hindernisse. Es liebt im Überfluss. Es vertraut im Überfluss. Und es lebt im Überfluss.

Wir erfreuen uns so sehr an seiner Liebe, dass wir ihm die ganze Welt schenken möchten. Was wir natürlich nicht können. Also schenken wir ihm Gegenstände. Wir möchte ihm einen Platz geben. Also richten wir ihm ein eigenes Zimmer ein. Das alles gehört nun dem Baby, das langsam in diese Welt hineinwächst. Ihm wird gesagt, dass es über diesen Besitz entscheiden könne. Und mehr und mehr erhält es das Gefühl, dass es nur durch diesen Besitz überhaupt ein Mensch ist.

Was bleibt von ihm übrig ohne die tolle Spielfigur? Ohne die Puppe. Ohne das Smartphone. Ohne die besten Noten. Ohne das Auto. Ohne das Haus. Ohne die Arbeit…

Der Mensch ist frei, solange man keine Grenzlinie durch sein Wohnzimmer zieht. Wen interessiert die Hautfarbe oder Herkunft des Nachbarn, wenn man gemeinsam im Garten sitzt, Kuchen isst und sich beim Bau des Hauses hilft?

Der Mensch ist frei, solange man ihm nicht beibringt, dass er nur durch Besitz und Leistung einen Wert erhält. Wen interessiert der Erfolg, das teure Auto oder die Auszeichnung des Nachbarn, wenn man gemeinsam in den Badesee springt, lacht und sich abends witzige Geschichten erzählt?

Wer legt die Grenzen unserer Erde fest? Wer teilt uns in Deutsche, Russen, Amerikaner oder Chinesen? Wer behauptet, wir seien unterschiedlich, nur weil wir an einem anderen Fleck auf der Erde zur Welt kamen?

Der Mensch war es. Kein Gott. Und keine Außerirdischen.

Der Mensch baute sich ein Haus mit vielen Kinderzimmern. Und nun wundert er sich, dass wir uns alle wie wildgewordene kleine Kinder verhalten, die um ihr Spielzeug kämpfen.

Doch was der Mensch einführte, das kann er auch wieder ändern. Ländergrenzen und Fremdenfeindlichkeit sind nicht von der Natur vorgegeben. Wir können sie in unserem Bewusstsein auflösen.

Dann kehren wir zum Blick eines neugeborenen Kindes zurück und erkennen, dass wir alle gleich sind. Dass wir Menschen sind. Einzigartige Individuen. Und dann schenken wir einander wieder die Liebe, die jedes Kind versprüht, bevor wir es in diese Welt einführen.

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