Innere Größe in der Praxis – Teil I

Leitartikel: Innere Größe

Ich möchte noch ein paar praktische Beispiele für den Umgang mit Kindern in der Haltung „innerer Größe“ geben:

Beispiel 1 – Jedes Mal, wenn Mutter Sarah mit ihrem drei Jahre alten Sohn Jan einkaufen geht, schmeißt er sich an der Kasse wütend und mit rotem Kopf auf den Boden, weil er einen Lolli haben möchte. Wenn Sarah dann nein sagt, beschimpft er sie: „Du bist eine böse Mama! Ich mag dich nicht mehr!“ Spätestens an diesem Punkt gibt Sarah nach und kauft den Lolli doch.

Sarah erträgt es nicht, wenn ihr Sohn böse auf sie ist. Oft tut sie Dinge, die sie eigentlich nicht will, aus Angst vor seinem Schreien in der Öffentlichkeit. Sie will doch eine gute Mutter sein. In diesen Momentan ist Mutter Sarah die Bedürftige, die Kleine. Sie will die Liebe ihres Sohnes und dieser kann sie ihr geben oder verweigern. Sarah ist daher ständig bemüht, sich die Liebe ihres Kindes zu kaufen oder sich ihrer „würdig“ zu erweisen. Aus Furcht, die Liebe und Zuneigung ihres Sohnes zu verlieren, hat sie nicht den Mut „nein“ zu sagen.

– Hin und wieder platz Sarah dann der Kragen. Sie schreit Jan an, bekommt einen ebenso roten Kopf, gibt ihm einen Klaps auf den Po, klemmt ihn unter den Arm und stürzt aus dem Geschäft.

Es scheint so, als hätte sich Sarah nun durchgesetzt. Doch auch diese Situation ist kein Beispiel von innerer Größe. Wieder fühlt sich Sarah innerlich klein, dem Kind unterlegen, ausgeliefert und überfordert. Sie hat nicht die Möglichkeit zu agieren, sie re-agiert nur noch. Aus dem Gefühl heraus, Jan sei der eigentlich stärkere, ist es das letztes Mittel, Jan zu schlagen und so ihre körperliche Überlegenheit zu demonstrieren. Schläge und andere Gewalt setzen Eltern ein, wenn sie sich klein, ohnmächtig und ohne Autorität fühlen. Die körperliche Größe verbirgt die innere Schwäche dahinter. Im Kind bewirkt die körperliche Strafe ein Gefühl von Demütigung, Angst und Ohnmacht. Es wird sich auf seine Art wehren, indem es immer wieder provoziert und so den Eltern ihre Ohnmacht trotzig vor Augen führt. Das Ergebnis ist ein Machtkampf zwischen Eltern und Kind.

Im Zustand innerer Größe kann Sarah es ertragen, wenn ihr Sohn böse auf sie ist. Das gehört zum Elternsein und zum Erwachsenwerden des Kindes mit dazu. Jan kann gerne seinen Unmut zum Ausdruck bringen. Keiner erwartet, dass ein Kind immer ja und amen sagt. Doch Sarah lässt sich dadurch nicht von ihrem Handeln abbringen. Sie kann nachgeben, wenn sie will, muss es aber nicht. Beschimpft Jan sie dann, ist sie sich bewusst, dass das nur für diesen Moment gilt. Jan ist sauer auf seine Mutter. Doch Sarah lässt sich dadurch nicht beirren oder verunsichern und hat keine Angst vor der Wut ihres Sohnes.

Handlungsvorschläge:

Es gibt keine Paradelösung für eine solche Situation. Eine Handlungsmöglichkeit wäre, mit Jan eine Absprache zu treffen, dass er nur bei jedem zweiten Mal einen Lolli bekommt oder nur in einem bestimmten Laden. Sarah könnte auch einfach ein klares „Nein“ aussprechen, wenn Jan das nächste Mal anfängt zu schreien. Dann hält sie die Situation aus, schaut ihn liebevoll an, geht nicht weg, sondern steht ihm zur Seite, bis er merkt, dass er mit seiner Forderung nicht durchkommt, die Liebe seiner Mutter ihm jedoch auch nicht verwehrt wird, wenn er nachgibt. Oder Sarah könnte ihren Sohn überraschen, indem sie selbst auf den Boden stampft und schreit, bis er merkt, dass sie mit ihm gemeinsam darüber lacht.

Um sich ins Bewusstsein zu rufen, dass man der/die Große ist, kann man sich innerlich folgenden Satz sagen: „Auch wenn ich mich im Moment nicht so fühle, ich bin der/die Große und du bist der/die Kleine.“ Oder „Auch wenn ich mich im Moment hilflos/genervt/unfähig usw. fühle, ich bin die Mutter und du bist – nur- das Kind – nicht mehr.“

Es folgt: Innere Größe in der Praxis – Teil II

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