Wer ist unser Dorf?

Ein afrikanisches Sprichwort lautet:
„Um ein Kind aufzuziehen, braucht es ein ganzes Dorf.“

Ich erlebe, dass dies allzu gerne von Eltern heutzutage zitiert wird, wenn sie ausdrücken wollen, dass es Mutter und Vater zwangsläufig überfordern muss, ein Kind zu erziehen, weil dies ja früher ein ganzes Dorf tat. Jeder passte auf, jeder sorgte sich um die Regeln und Kinder spielten überall. Paradiesisch!

Doch mehr und mehr wird mir bewusst, dass es nicht das fehlende Dorf ist, was uns an diesem Zustand hindert, sondern die fehlende Bereitschaft, Rat und Tat von anderen Erwachsenen anzunehmen. Wie oft höre ich die abfälligen Bemerkungen von Eltern, mal wieder hätte eine alte Frau sich über die Lautstärke der armen Kinder beschwert. Oder der Café-Besitzer, der verbot, dass das Kind unter jeden Tisch kriecht, auf den Sofas herumhopst oder seine eigene Kindermusik anmacht.

Wir erleben einen immer zügelloseren Umgang mit Kindern, der es jedem kinderlieben Menschen verbietet, Grenzüberschreitungen anzusprechen. Jeder, der wagt, etwas zu sagen, riskiert böse Blicke bis Beschimpfungen. Statt wie in einem Dorf als Erwachsene zusammenzuhalten, fallen wir einander in den Rücken und relativieren die Aussagen des anderen gegenüber den Kindern.
Was lernen sie, wenn die Erwachsenen schweigen oder ihre Beschwerden von den Eltern ignoriert werden? Sie lernen, dass man Erwachsene nicht ernst zu nehmen braucht. Dass sie tun und lassen können, was sie wollen, wenn sie in der Öffentlichkeit laut schreien und Mama nicht als meckernde Rabenmutter gelten möchte. Entweder Mama verteidigt die Kinder gegen jeden meckernden Alten oder sie muss machtlos zuschauen, denn das Schweigen der anderen wirkt bestätigend auf das Kind. Indem wir andere Erwachsene abwerten, schwächen wir uns selbst. Aus Unsicherheit und Angst traut sich keiner mehr, ein Wort zu sagen. Wir verlieren lästige Bemerkungen ebenso wie stärkende Unterstützung. Denn oft reicht ein Wort eines anderen und schon merkt das Kind, dass Mamas Einwand gar nicht so falsch ist und dass es keinem gefällt, wenn es schreiend vor dem Süßigkeitenregal liegt.

Wir beklagen das fehlende Dorf, das uns beim Aufziehen unterstützt, beschweren uns aber zugleich über die veralteten Ansichten unserer Eltern, die sich damit bloß nicht in die Erziehung einmischen sollten. Doch aus wem bestand denn damals dieses Dorf? Es waren doch vor allem die Großeltern und ältere Menschen, die ein Auge auf alles hatten und den Kindern ihre Weltanschauung, ihre Regeln und Gebote vermittelten.

Es war also zu keinem anderen Zeitpunkt anders. Nur eben viel kleiner.

Und was wäre es für eine Gesellschaft, wenn wir die Bedürfnisse der älteren Generationen wieder ernst nehmen würden? Wenn wir sie nicht mehr mit unseren Blicken und verachtenden Bemerkungen abwerten würden, sobald sie ihre Bedürfnisse  äußern? Und ja, auch die Eltern wünschen sich Achtung vor ihrer Leistung und Wertschätzung ihres neuen Umgangs mit Kindern. Doch eine Gesellschaft besteht immer aus älteren und jüngeren Menschen, die mit unterschiedlichen Vorstellungen aufgewachsen sind. Wäre es nicht eine große Bereicherung, wenn wir die Bedürfnisse aller Menschen im Blick behalten, ernst nehmen und den Kindern beibringen, auf sie Rücksicht zu nehmen, wenn diese geäußert werden?!

Wir wünschen uns alle eine rücksichtsvolle, wertschätzende Gesellschaft. Bei den Kindern haben wir die Chancen, jeden Tag zu vermitteln, nicht nur an uns selbst, sondern auch an die Menschen um uns herum zu denken. Auch wenn ihre Ängste und Wünsche manchmal übertrieben sind. So sind wir Menschen halt.

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