Eigenverantwortung oder Dienstleistung

Anders ausgedrückt: Dienstleistungsbeziehung oder lieb gemeint, aber am Bedürfnis vorbei.

Ich habe bereits einige Artikel dem Phänomen der Übervorsorge von Eltern gewidmet. Dies beinhaltet zwei Verhaltensweisen: 1. die Eltern sind stets bedacht, ihren Kinder immer und überall unter die Arme zu greifen sowie sie vor Leid zu bewahren. Und 2. sie wollen ihrem Kind jeden „Ich will haben“-Wunsch erfüllen. Vielleicht wurde ihnen in ihrer eigenen Kindheit vieles verwehrt, weshalb sie die sofortige Wunscherfüllung als einziges Werkzeug zum Glücklichsein empfinden.
Wir verwechseln heute die Selbstbestimmung des Kindes mit der Abgabe unserer elterlichen Verantwortung, unserem Kind durch weitsichtige, wohlwollende Entscheidungen Sicherheit und Richtung zu geben. Ein Kind kann seine tieferen Bedürfnisse frühestens mit 10 Jahren wirklich differenziert erkennen und benennen. Vorher überfordern wir unser Kind, ihm eine Vielzahl von Entscheidungen zu überlassen und jedem „Ich will haben“-Wunsch nachzugehen.
Um die Auswirkungen auf die Eltern-Kind-Beziehung in seiner Gänze zu begreifen, möchte ich euch die Worte des Familientherapeuten und Autors Jesper Juul aus „Dein kompetentes Kind“ ans Herz legen.

„Vor gar nicht langer Zeit erwartete man von Kindern die Übernahme einer ganzen Reihe häuslicher Pflichten – gewissermaßen als Dank für die Liebe und Fürsorge ihrer Eltern. ‚Die benehmen sich, als wären sie hier im Hotel‘ war eine typische Aussage von Eltern, die enttäuscht von der Passivität und Undankbarkeit ihrer Kinder waren.
Auf der anderen Seite hat sich in den letzten zwanzig Jahren ein Elterntypus herausgebildet, der sich nahezu umgekehrt verhält, indem er seinen Kindern einen allumfassenden Service zukommen lässt. Das sieht liebevoll und fürsorglich aus, solange die Kinder noch klein sind, doch spätestens wenn sie das vierte, fünfte Lebensjahr erreicht haben, wird die Atmosphäre in der Familie zunehmend gespannter werden. Dann steigt die Verärgerung der Erwachsenen im Takt mit den unangemessenen und teils absurden Forderungen der Kinder. Schlimmstenfalls enden die Eltern in einem Zustand permanenter Frustration und Erschöpfung, während die Kinder zu unverträglichen und unsozialen Wesen werden.
Fachleute haben versucht, solchen Kindern verschiedene Etiketten wie das der ‚kleinen Tyrannen‘ zu verpassen. Es vergingen ein paar Jahre, bis man die Aufmerksamkeit auf die Eltern richtete und sich dafür zu interessieren begann, was ihre Kinder so sehr aus dem Gleichgewicht gebracht haben mag.
Ich fand es stets sehr anregend, mit solchen Eltern – denen ich in verschiedenen Teilen Europas begegnete – zusammenzuarbeiten, weil sie in gewisser Weise die Vorreiter einer neuen Beziehung zwischen Eltern und Kindern sind.
Heutzutage denken Eltern sehr viel über das Verhältnis zu ihren Kindern nach. Sie machen sich viele Gedanken über ihre Erziehung und haben sich von der elterlichen Tyrannei vergangener Tage gründlich verabschiedet. So verhalten sich typisch moderne Eltern, die ihre Kinder vollkommen anders erziehen wollen, als sie selbst erzogen wurden. Doch findet sich dieses Phänomen auch in Familien, in denen die Eltern unsicher und sich ihrer Erziehungsprinzipien weniger bewusst sind.
Was in diesen Familien schiefläuft, hat im Kern mit persönlicher Verantwortung zu tun. Die Eltern haben in ihrer eigenen Kindheit erlebt, wie frustrierend und demütigend es ist, wenn die Erwachsenen alles bestimmen – in Bewusstsein und Sprache der Kinder bleibt dies als Erinnerung haften, nie das bekommen zu haben und tun zu können, was sie wirklich wollten.
Dabei kann es sich zum Beispiel ums Essen handeln: Dass man als Kind stets frühstücken musste, obwohl man keine Lust dazu hatte. Dass man andauernd dafür kritisiert wurde, zwischen den Mahlzeiten Hunger zu haben. Dass man immer aufessen sollte, auch wenn man schon satt war.
Es kann sich auch darum drehen, dass man ausgeschimpft wurde, wenn man seine Wünsche äußerte: ‚Glaube ja nicht, dass du alles gleich bekommst, nur weil du mit dem Finger darauf zeigst! Haben, haben, haben, immer willst du alles haben! Du glaubst ja wohl nicht, dass du allein auf der Welt bist! Andere haben auch Wünsche! Außerdem hast du gerade Geburtstag gehabt… und bald ist Weihnachten! Du siehst doch wohl ein, dass wir zwischendurch ein bisschen sparen müssen. Außerdem heißt es nicht „Ich will“, sondern „Ich möchte“!‘
Angesichts dieser Schimpfkanonade ist es nicht verwunderlich, dass Eltern in Versuchung geraten, ihren Kindern möglichst alles zu geben, worauf sie gerade Lust haben. Dies ist eine naheliegende Möglichkeit, seine Liebe und Fürsorge unter Beweis zu stellen, auch wenn die automatische Erfüllung aller Wünsche weder fürsorglich noch liebevoll wirkt. Sie ist, wie so vieles in der Geschichte der Kindererziehung, nur liebevoll gemeint.
Es geht, wie gesagt, um persönliche Verantwortung – von Kindern und Eltern. Kinder wissen, wozu sie gerade Lust haben, kennen jedoch oft ihre elementaren Bedürfnisse nicht. Wenn die spontane Lust der Kinder zur wichtigsten Richtschnur der Eltern wird, bekommen Kinder ganz gewiss nicht, was sie benötigen. Sie werden vernachlässigt, und da sie von ihren Eltern gelernt haben, dass sich Liebe und Fürsorge in spontaner Wunscherfüllung äußern, wachsen ihre Forderungen im selben Maße wie der Schmerz darüber, vernachlässigt zu werden. Sie kooperieren!
In diesen Familien kommt der Dialog zwischen Eltern und Kindern zu kurz. In ihrem Bestreben, fürsorglich und nicht autoritär zu sein, übersehen die Eltern ihre eigenen Bedürfnisse und ihre eigene Integrität, womit den Kindern ein persönlicher Widerpart fehlt. Sie können sich nicht mit Menschen aus Fleisch und Blut auseinandersetzen, sondern haben es mit Dienstleistenden zu tun. Doch auf lange Sicht gibt es keine persönliche Nähe ohne persönliche Verantwortung.
Erwachsene kennen dieses Phänomen aus ihren eigenen Liebesbeziehungen. Zwischendurch ist es sehr angenehm, sich bedienen zu lassen, vor allem, wenn dies wechselseitig geschieht. Doch wenn man mit einem Partner zusammenlebt, der nur darauf aus ist, unsere Bedürfnisse, Gefühle und Stimmungen zu erspüren, seine eigenen Wünsche jedoch vollkommen vernachlässigt, wird man am Ende sehr einsam – und frustriert sein. Schon für einen Erwachsenen ist es äußerst schwierig, zu seinem Partner zu sagen: ‚Hör mal zu, ich weiß, dass du mir am liebsten jeden Wunsch erfüllen möchtest, doch ich bekomme nie, was ich am meisten brauche: dich!‘ – Für ein Kind ist das vollkommen unmöglich.
Kinder können in einer solchen Situation nur zu der schmerzlichen Erkenntnis gelangen: ‚Wenn meine Eltern mir alles geben, worum ich sie bitte, und mir dennoch etwas fehlt, dann kann etwas mit mir nicht stimmen.‘
Die Eltern werden zwangsläufig zu demselben Schluss kommen: „Wir geben unseren Kindern alles, was in unserer Macht steht, und dennoch haben wir kein gutes Verhältnis miteinander. Wir müssen wirklich schlechte Eltern sein!“
Dies ist eine der explosivsten und destruktivsten Mischungen, die wir zwischen Eltern und Kindern kennen: Zwei Partner, deren Selbstgefühl und Selbstvertrauen rapide abnehmen und die im selben Maße Aggression und Schuldbewusstsein aufbauen.
Doch es gibt einen Ausweg aus dieser Problematik, der einfach und schwierig zugleich ist und mit zwei entscheidenden Schritten beginnt:
Als Erstes müssen die Eltern die volle Verantwortung dafür übernehmen, dass sich die Dinge destruktiv entwickelt haben. Sie müssen sich mit den Kindern zusammensetzen und sich in etwa folgendermaßen äußern: ‚Es tut uns leid, dass es euch nicht gutgeht, dass es auch uns nicht gutgeht und wir es nicht gut miteinander haben. Wir möchten euch gerne sagen, dass es nicht eure Schuld ist. Wir haben immer geglaubt, dass wir das Beste für euch tun, wenn wir euch jeden Wunsch erfüllen, aber jetzt wissen wir, dass wir uns geirrt haben. Wir waren so sehr darauf bedacht, euch glücklich und zufrieden zu machen, dass wir uns selbst ganz vergessen haben. Nun sehen wir, dass das ein Fehler war, den wir ab jetzt korrigieren wollen. Das wird uns nicht leichtfallen und euch sicher auch nicht, doch wir glauben fest daran, dass es uns gelingen wird. Wir würden uns natürlich sehr darüber freuen, wenn ihr uns unterstützen würdet, damit wir wieder eine glückliche Familie werden.‘
Der nächste Schritt erfordert etwas mehr Zeit und erfordert, dass Eltern alles tun, um ihre eigenen Grenzen, Wünsche, Gefühle und Bedürfnisse zu erforschen. Anschließend müssen sie sich darin üben, sich so klar wie möglich auszudrücken, also ohne die Kinder zu kritisieren oder an ihr Verständnis zu appellieren. Denn die Kinder sind erst dann in der Lage, mit ihnen zusammenzuarbeiten, wenn sie ihr neues Verhalten verinnerlicht haben. Ihr Verantwortungsgefühl kann sich nur im Takt mit dem Verantwortungsgefühl der Eltern entwickeln, und oft wird diese Entwicklung sich verzögern.
Doch wie sollen Eltern ihre eigenen Wünsche, Bedürfnisse und Grenzen kennenlernen? Nicht indem sie lange, tiefsinnige Gespräche mit den Kindern führen, sondern indem sie sich im täglichen Dialog auf sich selbst besinnen und sich um einen persönlichen Ausdruck bemühen.

Hier ein paar Beispiele:

Nicht so: „Ich muss heute nicht so lange arbeiten. Soll ich dich um 15 Uhr im Jugendzentrum abholen, oder willst du später alleine nach Hause kommen?“
Sondern so: „Ich muss heute nicht so lange arbeiten und kann dich um 15 Uhr im Jugendzentrum abholen. Ist dir das recht?“

Nicht so: „Was willst du zu Mittag essen?“
Sondern so: „Ich hätte heute Lust, Frikadellen zu essen. Ist das in Ordnung für dich?“

Nicht so: „Willst du heute nicht mal etwas früher ins Bett gehen?“
Sondern so: „Ich hätte heute Abend gern ein paar Stunden für mich allein. Würdest du etwas früher ins Bett gehen?“

Nicht so: „Am Wochenende haben wir noch nichts vor. Worauf hast du Lust?“
Sondern so: „Am Wochenende haben wir noch nichts Besonderes vor. Am liebsten würden wir einfach zu Hause bleiben und uns entspannen. Was meinst du?“

Nicht so: „Es ist ganz schön kalt heute. Meinst du nicht, du solltest etwas Wärmeres anziehen?“
Sondern so: „Zieh lieber etwas Wärmeres an, es ist ziemlich kalt heute.“

Nicht so: „Willst du mir heute Nachmittag nicht bei der Gartenarbeit helfen?“
Sondern so: „Hilf mir heute Nachmittag doch bei der Gartenarbeit.“

Der Unterschied mag recht klein erscheinen, doch geht es hier nicht darum, nur ein paar Wörter auszutauschen oder taktisch zu formulieren. Es geht um den Unterschied zwischen Einsamkeit und Gemeinschaft in der Interaktion. Entweder reden wir miteinander oder aneinander vorbei. Erst wenn die Kinder die persönliche Gegenwart ihrer Eltern spüren, bekommt ihr Austausch eine neue Qualität, und erst von diesem Moment an ist die Grundlage geschaffen, auf der sie ihre soziale Verantwortung entwickeln können.

Wie schnell sich ein neues Miteinander etabliert, hängt auch davon ab, ob das Serviceverhalten der Eltern Ausdruck einer bewussten Erziehungsphilosophie oder einer allgemeinen Unsicherheit geschuldet war. Doch in jedem Fall hat der spezifische Stil der Familie in den Kindern Wurzeln geschlagen, und so brauchen diese immer ein wenig länger als die Eltern, um ihr destruktives Verhalten abzulegen.
Wenn Eltern sich erstmals einer persönlichen Sprache bedienen, mag dies zunächst zu einer verständlichen Gegenreaktion, also einer erhöhten Anzahl von Konflikten führen, und so werden manche Eltern versucht sein, es mit den Rezepten von gestern zu probieren, „Grenzen“ zu setzen und „konsequent“ zu sein. Das mag zwischenzeitlich die gewünschte Wirkung haben, ist jedoch eine sehr kurzfristige Lösung, vor der man nur warnen kann.
Man reduziert allenfalls die Anzahl der Konflikte – allerdings nur an der Oberfläche. Denn statt miteinander zu streiten, werden die Familienmitglieder zunehmend eigene (interpsychische) Konflikte austragen, was unweigerlich neue interpersonale Konflikte nach sich ziehen wird. Dies hat vor allem zwei Ursachen: Zum einen bürden die alten Methoden den Kindern letztlich sämtliche Schuld und Verantwortung auf. Zum anderen füllen sie nur scheinbar das Vakuum, das durch die fehlende persönliche Nähe der Eltern entstanden ist. So bekommen die Kinder nicht, was sie wirklich brauchen. Sie lernen bestenfalls, sich so zu benehmen, als bekämen sie es. Auch die Eltern entwickeln sich auf diese Weise nicht weiter, sondern benutzen nur eine neue Methode, die fortan zwischen ihnen und den Kindern stehen wird. Dadurch verändert sich ihre Beziehung zu ihnen, doch gewiss nicht zum Besseren.
[…]
Kein Kind, unabhängig von seiner Persönlichkeit oder Diagnose, profitiert davon, zum Gegenstand einer pädagogischen Methode gemacht zu werden, es sei denn, es geht um die Vermittlung intellektueller oder praktischer Fertigkeiten.“

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