Windelfrei

Seit einiger Zeit gibt es in Deutschland eine neue Bewegung: Windelfrei.

Was in anderen Breitengraden völlig normal ist, kommt uns hier als Weltneuheit vor. Fragt man in Afrika Mütter, wie sie es schafften, ihrem Kind das gezielte Pinkeln beizubringen, schauen sie nur fragend. Dort gibt es keine Windeln und die Frauen merken es sofort, wenn das Kind gleich pinkeln muss. Sie halten es dann einfach in den nächsten Busch. Das ist bei uns nicht ganz so einfach, denn das Wetter lässt es meist nicht zu, dem Kind wenig oder gar keine Kleidung anzuziehen, um dieses Vorgehen zu vereinfachen. Dennoch lässt sich davon einiges abschauen. In China gibt es sogenannte Split Pants, die es zu Anfang den Eltern ermöglichen, das Kind schnell über ein Töpfchen zu halten und später dem Kind, sich schnell hinzuhocken.

Sein Kind windelfrei aufzuziehen, ist in den seltensten Fällen ein Dogma. Viele Familien landen bei dieser Methode, weil sie entweder Müll vermeiden wollen oder ihr Kind allergische Reaktionen gegen die Windeln zeigt. Und wieder andere wollen die Kommunikation mit dem Kind stärken.

Wem dieses Thema noch völlig fremd ist, der fragt sich vielleicht, wie es gehen soll, dass nicht jede Blasenentleerung auf dem Teppich landet. Tatsächlich zeigen Babys von Geburt an in unterschiedlicher Intensität, dass sie pinkeln müssen (gilt natürlich auch für das große Geschäft). Ein Mensch pinkelt nur im Wachzustand, da sich die Muskeln dafür entspannen müssen. Ein Baby kann diese Muskeln natürlich noch nicht steuern, dennoch funktioniert der Körper so, dass die Blase vollläuft, dies ein unangenehmes Gefühl für das Baby ist und sich erst dann die Muskeln lockern. Dieses Unwohlsein drückt das Baby auf individuelle Weise aus, so dass eine Mutter die Möglichkeit hat, diesen Moment abzupassen und das Kind schnell aufs Töpfchen, an einen Busch oder ähnliches zu halten. Zu Beginn wird das noch öfter schiefgehen, aber je klarer die Signale sind, desto besser lernt die Mutter oder der Vater, diese wahrzunehmen.

Jedes Kind zeigt diese Signale, doch sie lassen nach ca. sechs Monaten nach, wenn bis dahin niemand darauf eingegangen ist. Neben der Müllreduktion ist das eines der stärksten Argumente für Windelfrei: Kommunikation. Das Kind lernt von Geburt an, dass es Signale aussendet, die von seiner Umwelt verstanden werden. Vielen Kindern macht es dann richtig Spaß, wenn sie pinkeln müssen.

Windelfrei heißt jedoch nicht „ohne Windeln“. Viele verwenden Windeln als Backup, benutzen dann aber meist Stoffwindeln oder spezielle Hosen. Es geht nicht unbedingt darum, Windeln zu vermeiden, sondern dem Kind sein angeborenes Unwohlsein, wenn die Blase voll ist, nicht abzutrainieren. Dadurch ist es nicht zwangsläufig innerhalb von einem Jahr trocken, aber das Kind lernt nicht erst, einfach zu pinkeln, egal wo es gerade geht und steht, um ihm diese Fähigkeit nach drei Jahren wieder beizubringen. Viele Mütter sagen auch, dass sie es furchtbar finden, dass ihr Kind im eigenen Stuhlgang sitzen muss. Das ist ein weiterer Grund, dem Kind von Anfang an beizubringen, dass es sich bemerkbar machen soll, wenn es muss.
Die meisten haben also doch Windeln in irgendeiner Form. Spätestens nachts wird es nämlich doch recht schwierig, auf die Signale des Kindes zu achten. Da gilt: Schlaf geht vor windelfrei! Gerade wenn Babys noch gestillt werden, muss die Flüssigkeit ja irgendwo hin. Wer auch noch nachts darauf achten will, ob sein Kind gleich auf Toilette muss, der wird wohl kaum noch ein Auge zukriegen. Tagsüber kann ebenfalls eine Windel getragen werden. Es geht eher darum, dass die Eltern reagieren, wenn sie meinen, dass das Kind pinkeln muss und ihm dann schnell die Windel ausziehen und es über eine Toilette oder dergleichen halten. Wichtig ist, nicht verbissen oder gar ärgerlich zu werden, wenn es nicht klappt. Wir leben nun mal nicht in Afrika bei 30 Grad im Schatten und wir laufen auch nicht den ganzen Tag im Garten herum, sondern sind in der Bahn, im Auto oder im Supermarkt. Auf die Signale des Kindes zu achten, ist aber auf jeden Fall ein gutes Vorhaben!

In mir weckte diese Methode von Anfang an Interesse. Ehrlich gesagt haben wir uns aber nicht getraut, es auszuprobieren. Zu groß waren die Vorbehalte und Vorstellung, den Blick dann keine Sekunde vom Kind abwenden zu dürfen. Unsere Tochter hat ganz klassisch 1 1/2 Jahre Windeln getragen. Dann jedoch hatte ich die Nase voll, im wahrsten Sinne des Wortes. Ich wollte sie also langsam an ein Leben ohne Windeln heranführen. Das war leichter gesagt als getan, denn sie fand ihre Windeln eigentlich gar nicht schlecht. Im Sommer ließen wir sie so oft es ging nackig auf der Wiese laufen. Es war sehr lustig, ihr zuzusehen, wie sie völlig erstaunt das erste Mal wahrnahm, was passiert, wenn sie pinkelt. Vorher wurde es einfach nur warm in der Windel, jetzt kam da auf einmal Flüssigkeit die Beine hinunter. Töpfchen und Toilette mit Aufsatz fand sie gar nicht witzig. Doch ich entdeckte, dass sie meist reflexartig pinkelte, sobald sie mit den Füßen im Wasser stand. Also stellte ich sie regelmäßig in die Badewanne, wenn ich der Meinung war, dass sie schon länger nicht gepinkelt hätte. Das fand sie zusehends interessant. Daraufhin stellte ich das Töpfchen in die Badewanne, woraufhin sie sich nun auch auf das Töpfchen setzte. Einige Wochen später stellte ich das Töpfchen vor die Badewanne. Mittlerweile ging sie schon mit großer Freude auf das Töpfchen. In der Kita durfte sie nun schon ein paar Mal auf der Kindertoilette sitzen und als wir ihr den Aufsatz auf unserer Toilette zeigten, hatte sie plötzlich auch daran Interesse. Sie war nun fast zwei Jahre alt. Um die neu entdeckte Fähigkeit und den Wunsch, ein „großes Mädchen“ zu sein, zu festigen, kauften wir mit ihr zusammen kleine Unterhosen. Sie war unglaublich stolz. Wir stellten die Regel auf, dass sie diese nur ohne Windel tragen dürfe und sie akzeptierte es sofort. Die Windeln waren zwar noch nicht gänzlich abgeschafft, aber zu Hause trug sie schon keine mehr.
In der Kita brauchte sie etwas länger. Die Erzieher sagten, dass sie dort so abgelenkt sei und es deshalb häufiger schiefgehe. Wir bestanden darauf, dass sie es dennoch regelmäßig probieren sollten, damit unsere Tochter die Fähigkeit nicht wieder abtrainiert.

Seit sie etwas über zwei Jahre alt ist, trägt sie nun nur noch nachts Windeln. Hin und wieder geht was daneben, aber allein schon nicht mehr ihr großes Geschäft vom Hintern abkratzen zu müssen, ist es wert, gelegentlich Wasser vom Boden zu wischen.

Ich finde den Gedanken hinter „Windelfrei“ auf jeden Fall sehr interessant, nämlich die Kommunikation zwischen Eltern und Kind zu stärken und auf die Signale des Kindes zu achten. Wichtig finde ich dabei vor allem die Information, dass man dennoch Windeln verwenden kann, um sich nicht permanent in eine unangenehme Situation zu bringen. Und wer damit gut zurechtkommt, für den ist es sicher eine Bereicherung.

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