Wie viel Nein ist sinnvoll?

Meine Tochter ist nun 20 Monate alt. Sie läuft sicher und aus ihrer Perspektive gibt es wahrscheinlich nicht mehr viel, das sie nicht kann. Hat sie sich etwas in den Kopf gesetzt, braucht es viel Überzeugungskraft, sie davon abzubringen. Hinter jeder Hecke, in jedem Gegenstand lauert gewissermaßen eine Gefahr oder ein potenzielles Verbot, das ich ihr klarmachen muss. Da ist die Straße, da ist die Vase, da ist das Glas. Alles Dinge, die man schnell mit einem „Nein“ in Verbindung bringt.

Doch wann genau ist nun ein „Nein“ angebracht? Wann lasse ich Konsequenzen folgen, wenn es nicht eingehalten wird?

Mit dem Laufen beginnt auch das Austesten von Grenzen. Die zurückgelegten Distanzen werden größer, der Radius erweitert sich, die Erwachsenen müssen wie die Luchse ihre Augen aufhalten, damit das Kleinkind sich nicht vom Acker macht. Genau das war der Moment, an dem ich mir die Frage stellte, was soll ich nun alles verbieten? Was ist ein Verbot und wo muss ich einfach nur zur Vorsicht ermahnen?

Laut dem Buch „Nein aus Liebe: Klare Eltern – starke Kinder“ muss nicht alles mit einem Nein ausgedrückt werden. Nicht alles sollte zum Verbot erhoben werden. Das Wort „Nein“ ist unsere stärkste Waffe als Erwachsene. Verwenden wir es inflationär und fordern es dann nicht konsequent ein, verspielen wir unsere Kraft. Das Nein verkommt zu einem Alltagsbegriff, den das Kind missachten darf, wenn es nur genug Willen beweist und das Nein ignoriert.

Wie gehen wir also dann mit Situationen um, in denen wir unser Kind schützen wollen oder es Grenzen überschreitet?

Mein erstes Gebot ist: Möchte ich meine Tochter vor einer Gefahr schützen, zeige ich sie ihr deutlich, indem ich sie dorthin begleite und sage ihr dann, was sie zu tun hat. Das ist essenziell! Ich sage nicht: „Fall nicht hin!“, sondern ich sage ihr: „Hüpf über den Stein!“. Das ist in der Wahrnehmung ein eklatanter Unterschied. Das menschliche Gehirn (wahrscheinlich ist das bei Tieren nicht anders) ist so programmiert, dass es das tut, worauf wir hingewiesen werden. „Denk nicht an den rosa Elefanten“. Wir tun automatisch das, was uns aufgetragen wird. Insbesondere Kinder verstehen das Wort „nicht“ nicht. Auch bei Erwachsenen „überhört“ unser Gehirn dieses Wort quasi. Hinzu kommt, dass Erwachsene scheinbar immer davon ausgehen, das Kind wüsste, was das Gegenteil von dem ist, was es gerade tut. Aber meist hat es keine Ahnung, was das Gegenteil von „Lauf nicht ins Wasser!“ ist. Es gibt ja auch kein Gegenteil. Es gibt nur Hundert Möglichkeiten, etwas anders zu tun. Wenn wir wollen, dass das Kind etwas bestimmtes NICHT TUT, müssen wir selbst erstmal wissen, was es denn tun soll. Nach und nach lernt das Kind natürlich, wofür es belohnt wird, also welche Reaktion auf welchen Ausruf der Erwachsenen gewünscht wird. Aber eigentlich versteht es die Anweisung trotzdem nicht. WIR müssen klar ausdrücken, was wir wollen.

Mein zweites Gebot ist: „Nein“ ist das allerletzte Mittel! Erstmal strenge ich alle meine grauen Zellen an, um meine Tochter von etwas abzubringen, das ich nicht möchte, bevor ich nein sage. In der Praxis heißt das zum Beispiel, dass ich, um sie von einem Gegenstand abzubringen, der gefährlich für sie ist, den sie aber unbedingt haben möchte, ihr einen anderen Gegenstand schmackhaft mache. So vermeide ich, nein zu sagen, ihr den gewollten Gegenstand wegzunehmen und ein heulendes Kind zu haben. Stattdessen läuft sie in 50% der Fällen freudig auf ein anderes Ziel zu. In den anderen 50% der Fälle mache ich ihr klar, dass ich sie beispielsweise auf den Arm nehme, wenn sie ständig auf die Straße laufen will. Ich sage ihr dann „Das kannst du noch nicht.“ Auch da sage ich kein Nein, denn sie missachtet es aktiv. Möglicherweise, weil sie nicht versteht, warum sie mit mir über die Straße laufen darf, alleine aber nicht. Wann immer also die Gefahr besteht, dass sie mein Nein missachtet, sage ich nicht nein, sondern verwende Synonyme und halte sie fest oder gehe mit ihr an einen anderen Ort. Eine andere Methode ist auch, ihr zu sagen, was sie stattdessen tun kann. Haut sie beispielsweise mit einer Schaufel gegen eine Tür oder haut und ruckelt an einer Lampe, sage ich ihr „Ei, ei“, so dass sie in ein Streicheln des Gegenstandes übergeht.

Mein drittes Gebot ist eher eine Frage, die ich mir selbst stelle: Ist es jetzt in diesem Moment wichtig, meinen Willen durchzusetzen und zu etwas nein zu sagen oder kann ich ebenso einfach mal etwas anders machen? Meine Tochter war 1 1/2 Jahre als wir unseren ersten Kinderwagen kauften und vor allem auch nutzten. Die erste Woche war meine Tochter noch total begeistert, doch dann wollte sie mehr und mehr neben dem Wagen herlaufen und sich nicht mehr hineinsetzen. Zwei-, dreimal mussten wir sie unter großem Geschrei hineinzwingen und schnell festschnallen, damit sie mitkam und sich nicht wütend auf den Boden schmiss. Wir hatten keinen Bock mehr. Das konnte doch nicht der richtige Weg sein?! Beim nächsten Mal also sagte ich mir, „Dann werfe ich eben meinen Plan über den Haufen und lasse den Wagen zu Hause.“ Und siehe da, plötzlich hatte ich wieder ein überglückliches Kind, keine Wutanfälle und keinen Stress. Ich habe also nicht „Nein, wir gehen jetzt aber mit dem Kinderwagen!“ gesagt, sondern mich darauf eingelassen, was meine Tochter möchte, weil es für mich letztlich egal war. Es gab keinen logischen Grund, warum sie unbedingt im Wagen sitzen musste. Und genau das ist ein wichtiger Punkt: Allzu oft sehe ich Eltern, die aus Verzweiflung nein sagen, um ihren Willen oder einen Plan durchzusetzen, den sie vielleicht aus Bequemlichkeit oder Routine festgelegt haben. Auch vertreten Bücher sehr oft die Meinung, man müsse seinen Willen durchsetzen, wenn das Kind sich nicht an die Anweisungen hält, damit es Grenzen kennenlernt und versteht, dass der Erwachsene immer das letzte Wort hat. Wichtig ist: Klarheit! Wir müssen klar sein, in dem, was wir sagen. Das bedeutet, dass wir uns vorher überlegen müssen, wann wir nein sagen. Ist es einmal gesagt, dann muss man entweder noch mal die Kurve kriegen, indem man dem Kind zeigt, dass man seine Meinung respektiert und in diesem Fall einsieht, dass die Handlung doch ok ist, oder dabei bleiben. Ich beobachte viele Eltern, die erstmal Nein rufen, das Kind aber weitermacht. Dann folgt lange keine Reaktion der Eltern. Und schließlich springen sie dann plötzlich auf und schreien „Wenn du das nicht sofort sein lässt, gehen wir nach Hause“. Klarheit heißt, dass wir auf ein „Nein, tu dies nicht“ auch eine entsprechende Reaktion folgen lassen. Ebenso heißt Klarheit, dass wir in ein und derselben Situation nicht mal gar nichts sagen und mal ganz böse werden, sondern uns einigen, wo wir durchgreifen müssen, weil es eine große Gefahr ist und wo es nicht Not tut. Dabei kommt es auch darauf an, dass sich die Eltern untereinander einig sind und dem anderen nie in den Rücken fallen, auch wenn eine Reaktion des anderen einem dann mal nicht in den Kram passt. Dann zählt, dem Kind gegenüber eine Meinung zu vertreten. Egal welche.

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Ein Gedanke zu „Wie viel Nein ist sinnvoll?

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