Hochsensible Kinder

Ein plötzliches Geräusch erschreckt es. Starker Duft irritiert. Kommen Personen mit schlechter Stimmung in den Raum, fällt es ihm schwer, sich dieser Energie zu entziehen. Im Gespräch versucht es ständig, sich dem Gegenüber anzugleichen. Je näher es dessen Meinung ist, desto sicherer fühlt es sich. In großen Menschenmengen fühlt es sich beengt und unwohl. Gewaltszenen im Kino gehen ihm durch Mark und Bein. Manchmal denkt es tagelang über eine erlebte Situation nach, die andere schon lange vergessen hätten. Kommt die Oma zu Besuch, verhält es sich ganz anders als allein zu Hause, um den Erwartungen und Wünschen der Oma zu entsprechen. In Gruppen versucht es stets, nicht anzuecken oder unangenehm aufzufallen.

Hochsensible Kinder. Es handelt sich dabei um einen verhältnismäßig neuen Begriff, den es als Phänomen vermutlich aber schon immer gab. 1996 wurde der Begriff erstmals von der amerikanischen Psychologin Elaine N. Aron verwendet. Doch bereits in den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts umschrieb der Professor für Psychiatrie und Neurologie Ernst Kretschmer die Wesenszüge von Hochsensiblen, ohne den Begriff zu verwenden.
Dies sind Menschen, die sensibler und intensiver wahrnehmen. Sie nehmen Geräusche, Düfte, Stimmungen und andere Signale stärker wahr. Sie sind Reizen ungefiltert ausgesetzt, ohne gleich autistisch zu sein.

Dies kann eine Gabe sein, aber auch schnell zu Überreizung, Überflutung und Verwirrung führen. 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung gehören dieser Gruppe an. Doch der Einzelne fühlt sich meist sehr einsam und allein.
Manche Experten sagen, diese Fähigkeit würde vererbt, andere sehen einen stärkeren Einfluss in der Sozialisation. Fest steht, dass viele hochsensible Kinder auch meist einen hochsensiblen Elternteil haben.
Diese Menschen gab es schon immer. Sie waren wichtig für jede Gruppe, jeden Stamm, jede Kultur. Sie konnten lange vor den anderen Gefahr wittern und die Gruppe warnen, so dass das Überleben aller stark von ihnen abhing.

Oft wird Hochsensibilität mit Hochbegabung gleichgesetzt. Doch erstmal sagt es nichts darüber aus, welche Begabungen die Person noch besitzt. Es besteht zwar ein Zusammenhang zwischen hoher Sensibilität und hoher Intelligenz, dennoch bleibt offen, welche Art der Hochsensibilität die Person hat und ob sie konstruktiv damit umgehen kann oder nicht.
Die Ursachen der Hochsensibilität sind leider noch nicht erforscht.

Dies ist ein sehr wichtiges Thema für alle Eltern und Lehrer, denn die Folgen, wenn die Wahrnehmung dieser Kinder nicht ernst genommen oder sogar von ihrer Umwelt belächelt und ignoriert wird, sind weitreichend. Ebenso betrifft es auch die Eltern selbst, die erkennen, dass sie nicht nur ein hochsensibles Kind haben, sondern auch selbst hochsensibel sind und nie verstanden, warum die Umwelt nicht so fühlte wie sie.

Doch bleiben wir bei den Kindern, die wir alle einmal waren…
Die Kinder sind schon früh sehr offen für die Gefühle und Signale des Umfeldes. Leider sind diese Signale oft nicht eindeutig und manchmal so stark, dass sie auch normale Erwachsene überfordern.
Um mit ihrer Sensibilität nicht negativ aufzufallen, eignen sich die Kinder schnell die Fähigkeit der Anpassung an. Oft haben sie früh erlebt, dass ihre Wahrnehmung nicht auf Zuspruch stieß oder sogar für falsch erklärt wurde. Dies führte dazu, dass sie an sich selbst zweifelten, den eigenen Körpersignalen misstrauten und lernten, diese zu unterdrücken oder die Gefühle und Meinungen der anderen schnell zu erkennen und anzunehmen.
So geraten diese Kinder in einen ewigen Kampf gegen die vermeintlich störende Selbstwahrnehmung und Anpassung an die anderen. Die Folge ist der Verlust der Wahrnehmung des eigenen Körpers sowie die fehlende Verbindung zu den eigenen Bedürfnissen. Die Gefühle und Bedürfnisse der anderen werden vor die eigenen gestellt. Der Körper wird dann nur noch ernst genommen, wenn er stört bzw. wenn er sich durch Schmerzen und körperliche Symptome bemerkbar macht. Dies ist meist Ursache von Krankheiten, die häufig chronisch werden.
Das Kind fühlt sich durch die zunehmend stärkere Außenwahrnehmung noch mehr überfordert und geschwächt. Viele berichten, sich wie in einem fremden Körper zu fühlen und dass sie nicht mehr wüssten, wer sie eigentlich sind.
Da die Körpersignale nicht mehr wahrgenommen werden, bemerkt das Kind das Übertreten der eigenen Grenzen häufig nicht rechtzeitig. So ist es ständig über- oder unterfordert. Auch für die Interaktion mit Menschen ist dies ein großes Problem, da viele Situationen als Konflikt empfunden werden und das Kind frühestens hinterher Ideen hat, wie es hätte anders damit umgehen können. Wieder glaubt das Kind, falsch oder ungenügend zu sein. Viele entziehen sich dem Kontakt mit anderen Menschen, um dieser Überforderung zu entgehen.
Oft nehmen sich die Kinder immer stärker aus der Perspektive anderer wahr und bewerten sich daher nach fremden Kriterien, denen sie nie gerecht werden können. Sie versuchen alles, um bloß nicht anzuecken und allen potentiellen Erwartungen gerecht zu werden. Sie fühlen sich fremdgesteuert und missverstanden.

All das passiert aus dem tiefen Wunsch nach Anerkennung, Wertschätzung und Zugehörigkeit. Sie empfinden sich als so andersartig, dass sie nicht sie selbst sein wollen aus Angst, dadurch ausgegrenzt zu werden.
Sind zusätzlich die Eltern oder ein Elternteil hochsensibel, verstärkt dies meist noch die Last der Gabe. Denn sind sich die Eltern dessen nicht bewusst, übernehmen sie die erlebten Verhaltensweisen ihres Umfelds und gehen schlimmstenfalls ebenso verständnislos mit den Äußerungen des Kindes um wie weniger sensible Menschen. Oder sie sind so überfürsorglich, dass sie das Kind für sich einnehmen, ihm keinen Freiraum zur Selbstentfaltung lassen, es mit hohen Erwartungen belegen oder es in Watte packen.

Doch es gibt sie: Kinder, die immer schon so sein durften, wie sie waren. Sie wurden mit ihrer Wahrnehmung und ihren Äußerungen angenommen und konnten sich ganz auf ihre Existenz in der Welt einlassen. Da sie keine Abwertung erfuhren, lernten sie, ihre Wahrnehmung zu schätzen und ernst zu nehmen. So entwickelten sie ein feines Gespür für ihr Bauchgefühl, ihre Bedürfnisse und Grenzen. Aus ihrer Begabung wurde ganz von selbst eine nützliche, stärkende Fähigkeit für sich und ihr Umfeld.

Was können Eltern nun tun, um das Kind in seiner Fähigkeit zu unterstützen und zu fördern?
Rolf Sellin, der sich als Autor diesem Thema widmet, fiel in Beobachtungen folgendes auf: es scheint sich besonders positiv auf die Kinder auszuwirken, wenn die Eltern als erstes das Kind als selbstständiges Geschöpf mit einem ganz individuellen Wesen und eigenen Lebensaufgaben und Lebensplan achten und respektieren.
Darüber hinaus kommt es dem Kind zugute, wenn die Eltern sich selbst nicht nur als Eltern, sondern auch als Mann und Frau betrachten und auf ihre eigene Selbstentfaltung achten. So steht nicht die Fürsorge um das Kind im Mittelpunkt, und das Kind konzentriert sich weniger darauf, den auf sich fokussierten Erwartungen gerecht zu werden, um die Eltern nicht zu enttäuschen. Es kann die Eltern gar nicht enttäuschen, denn ihr Selbstwert steht nicht in Abhängigkeit zum Erfolg des Kindes.
Im Idealfall ist das Ziel der elterlichen Erziehung die Förderung und Entfaltung der vorhandenen Fähigkeiten, die allmähliche Erweiterung der Grenzen und die Übernahme von Verantwortung. Eltern und Kind leben gemeinsam und haben doch jeder ihre eigene Welt. Die gegenseitige Achtung wirkt positiv auf die natürliche Abnabelung des Kindes.

Ein weiterer Aspekt ist die Förderung der eigenen Körperlichkeit und Sinneswahrnehmung. Dabei hilft es, den Kindern früh den Kontakt mit Natur und Tieren näherzubringen, um die Entdeckung der Welt zu ermöglichen, für die Unterschiede der Wahrnehmung zu sensibilisieren und die Bildung von Wahrnehmungsmustern zu fördern, die sich positiv auf die Konzentrationsfähigkeit und das Lernen auswirken.
Ebenso helfen Bewegung und Sport, um das Gefühl für den eigenen Körper zu stärken und Selbstvertrauen aufzubauen.
Zudem brauchen hochsensible Kinder Zeit für Rückzug. Dort kommen Sie zur Ruhe, können sich zentrieren und von den vielen äußeren Einflüssen abschalten.

Eltern hochsensibler Kinder müssen besonders darauf achten, dass ihre Kinder sehr sensibel auf offene sowie nicht ausgesprochene Konflikte reagieren. Sie übernehmen aus Liebe zu den Eltern sehr früh deren ungelöste Probleme. Wollen Eltern also wirklich etwas für ihre Kinder tun, ist das größte Geschenk das Lehren der eigenen Bewusstheit und Entfaltung sowie die Erforschung dieser Themen, um sich stets weiterzuentwickeln und mehr über das eigene Naturell zu erfahren und zu verstehen. „Nur dann sind Kinder frei, ihren eigenen Weg zu gehen.“

Mehr zum Thema ist zu finden in: Wenn die Haut zu dünn ist: Hochsensibilität – vom Manko zum Plus von Rolf Sellin

Ein Gedanke zu „Hochsensible Kinder

  1. Danke für diesen schönen Text! Er fasst viele Aspekte sehr logisch zusammen ohne romantisch verklärt oder von oben herab zu sein.
    Gern gelesen!

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