Die Macht des Schweigens

Eine Mutter versucht, ihr vierjähriges Kind anzuziehen, das wütend mit Schimpfworten um sich wirft und sie mit Händen und Füßen schlägt. Der Vater liest im Nebenraum Zeitung.

Mutter und Vater sitzen mit ihrem Kind am Esstisch. Die Mutter bittet das Kind, ihr das Salz zu reichen. Es reagiert nicht. Der Vater isst wortlos sein Brot weiter.

Der kleine Bruder haut die große Schwester. Die Mutter räumt ohne einen Blick weiter auf.

Wir haben im Alltag viele Bedürfnisse zu stillen. Ob Mutter oder Vater, wir sind oft im Stress, versuchen, alles nebenbei und parallel zu erledigen. Wer soll da noch Augen und Ohren für die kleinen Nuancen unserer Sprache haben?

Ein Vater vergewaltigt seine Tochter regelmäßig. Die Mutter schweigt.

Ja, wir haben immer viel um die Ohren. Doch es ist unser Schweigen, unser Nichtstun, das eine große Wirkung hat. Egal, aus welchem Grund wir nicht reagieren. Unsere Kinder verstehen unser Schweigen als Bestätigung ihres Verhaltens oder das eines anderen. „Wenn niemand etwas sagt, findet Mama das Hauen schon in Ordnung. Schließlich schreit sie sonst sofort, wenn ich Wasser verschütte.“, „Wenn Mama nicht mit Papa schimpft, wenn er mich komisch anfasst, muss das wohl so sein.“, „Wenn keiner etwas sagt, wenn mich die Jungen in der Schule bedrängen, ist es wohl mein Fehler.“

Wir können immer behaupten, dass wir es nicht wussten. Doch der Schaden an unseren Kindern ist groß. Wir können so viele Regeln aufstellen, wie wir wollen. Am Ende zählt nur, ob wir sie auch einfordern und wie wir reagieren, wenn sie übertreten werden. All die Worte. Sie haben keine Wirkung.

Es sind die alltäglichen Situationen, in denen unsere Kinder lernen, wie wir mit Absprachen, Regeln, Bedürfnissen und unseren Mitmenschen umgehen. Lassen wir zu, dass unser Kind auf eine Frage nicht reagiert? Unterstützen wir unseren Partner, wenn das Kind seine Forderung nicht befolgt? Lassen wir unser Kind eine Grenze ohne Konsequenz übertreten? Greifen wir ein, wenn ein Kind das andere schlägt? Lassen wir unser Kind fremde Gegenstände wortlos zerstören?

Wann reagieren wir und wann schauen wir zu? Nicht zu reagieren, ist ein stilles Ja. Auch wenn wir im Nebenraum sitzen.

Dabei heißt reagieren nicht immer, zu schimpfen. Manchmal ist es ein aufmerksamer Blick. Manchmal ein kraftvolles Nein. Manchmal ein beständiges Nachfragen.

Unsere Kommunikation hat natürlich etwas mit uns selbst zu tun. Kann ich mich leicht entschuldigen oder fällt es mir schwer? Kann ich Fehlverhalten – auch bei Fremden – ansprechen oder habe ich Angst vor Zurückweisung? Spreche ich Konflikte direkt an oder schlucke ich sie aus Angst vor Konfrontation lieber runter? Kann ich die Worte meines Partners bekräftigen oder kritisiere ich ihn lieber? Nehme ich meinen Partner ernst oder ignoriere ich oft seine Worte? Achte ich selbst darauf, auf Ansprachen zu reagieren oder bin ich oft gedanklich abwesend? Nehme ich es wahr, wenn ein Mensch sich über die physischen oder psychischen Grenzen eines anderen hinwegsetzt oder sehe ich einfach darüber hinweg?

Wenn wir uns respektvolles, umsichtiges Verhalten von unseren Kindern wünschen und sie vor übergriffigem, verletzenden Verhalten schützen wollen, müssen wir unser eigenes Kommunikationsverhalten hinterfragen und anpassen. Denn wann immer ein Elternteil wissentlich oder unwissentlich schweigt, sind die Kinder die Leidtragenden.

Das Schweigen ist unsere Unbewusstheit.

5 Gedanken zu „Die Macht des Schweigens

  1. Hallo, wie sollte ich denn am Besten reagieren wenn mein Partner meinem Kind unrecht tut?
    In einem anderen Artikel von Ihnen steht, dass man seinem Partner auf keinen Fall in den Rücken fallen soll, aber wenn es doch so ungerecht ist und er meiner Meinung nach offensichtlich falsch handelt (z.B. anschreien, beschimpfen oder aufs Zimmer schicken und unser Sohn darf laut dem Papa auch erst wieder bei uns sein wenn wir ihn holen) dann kann ich das doch nicht einfach unterstützen.
    Wir haben oft schlechte Stimmung zu Hause, weil wir uns in Erziehzngsfragen so uneinig sind, mein Mann beschwert sich eben darüber, dass ich ihm angeblich in den Rücken falle und ärgert sich darüber, dass unser Sohn sich dann gerne hinter mir versteckt. Ich wiederum meine, dass er oftmals viel zu hart und lieblos ist, aber auch das hängt leider sehr von seiner eigenen Stimmung ab.

    Würde mich sehr über eine Antwort freuen

    LG Julia

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    • Ich stelle mir in solchen Momenten die Frage, wo das größere Wachstum für das Kind liegt.
      Liegt es darin, vor dem Papa beschützt zu werden oder zu sehen, dass Mama und Papa eine unbestechliche Einheit sind? Kinder wissen genau, bei wem sie womit mehr erreichen. Und Kinder lieben ihre Eltern gleichermaßen. Da sollten wir uns von Worten nicht täuschen lassen, falls mal einer „doof“ genannt wird. Wenn wir unser Kind vor dem Partner „schützen“, sagen wir indirekt: „Der macht es falsch. Du brauchst ihn nicht ernst zu nehmen. Ich bin besser.“. Bin ich denn besser? Weiß ich es wirklich besser? Diese Situationen sind immer eine Herausforderung. Für beide Elternteile. Der eine merkt, dass er sich gegen den Willen des anderen durchsetzt und der andere sieht zu, wie gegen den eigenen Impuls gehandelt wird. Doch hier liegt ein unglaubliches Wachstumspotenzial für euch drei. Euer Kind kann in diesem Moment lernen, wie ihr beide mit einer Meinungsverschiedenheit umgeht. Macht ihr euch Vorwürfe? Erniedrigt ihr den anderen? Beschimpft ihr euch? Schluckt ihr es einfach ungeklärt runter?
      Und ihr als Paar könnt lernen, respektvoll, verständnisvoll und liebevoll mit dem anderen umzugehen. Egal, welche Meinung er hat. Auch er hat eine gute Absicht. Wenn wir erkennen, dass wir das gleiche Ziel haben, können wir uns in einem Gespräch zu zweit über mögliche Lösungswege konstruktiv unterhalten. Bekämpft euch nicht! Seht das gemeinsame Ziel. Vereinbart zum Beispiel, dass ihr beide Wege über einen gewissen Zeitraum ausprobieren wollt. Und dann schaut ihr, was hat es gebracht. Seid Forscher! Seid Experimentierer! Es gibt hier keine richtige Lösung. Nur ihr könnt den besten Umgang mit eurem Kind herausfinden. Wichtig ist, dass ihr euch gemeinsam bewusst macht, was ihr erreichen wollt und wie das beste Ergebnis aussehen würde. Daran müsst ihr eure Methoden messen. Vielleicht stellt ihr auch fest, dass beide doof sind. Dann probiert das nächste. Und wenn euer Kind alt genug ist, dann sprecht mit ihm darüber, was es sich wünschen würde, damit es auf diese oder jene Art reagiert.
      Diese Momente sind ein großes Geschenk an euch. Sie werden euch zu mehr Bewusstheit führen, weil ihr euch über euer eigenes Verhalten austauschen und es prüfen müsst. Jeder muss sich fragen: Was mache ich da eigentlich? Hat es jemals geholfen? Was ist das sichtbare Ergebnis beim Kind? Und dann folgt vielleicht die Frage: warum mache ich es eigentlich so, wie ich es mache? Stecken da vielleicht in mir selbst alte Muster, die ich von meinen Eltern unreflektiert übernommen habe?
      Ihr seid als Eltern ein Team. Manchmal ist der eine schwach, manchmal der andere. Das Spiel wird nur gelingen, wenn sich keiner von beiden über den anderen erhebt und denkt, er wüsste es besser.

      LG Leonie

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      • Vielen Dank für die schnelle und ausführliche Antwort.
        Ich glaube allerdings keinesfalls, dass ich alles richtig mache, ich habe in der Vergangenheit schon viele Fehler gemacht und hinterfrage mich immer wieder selbst.
        Aber ich finde einige Dinge kann man doch einfach nicht gut heißen, wo ist da die bedingungslose Liebe?
        Wenn unser Sohn offensichtlich leidet, sich ausgegrenzt, ungerecht behandelt fühlt, falle ich dann nicht auch ihm in den Rücken wenn ich nicht an seiner Seite stehe?
        Wenn ich dann in so einer schwierigen Situation auf meinen Mann „gehört“ habe, dann ging es mir echt schlecht dabei.
        Also danke nochmal für die Antwort, ich muss darüber wohl nochmal ein bisschen nachdenken.

        LG Julika

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  2. diesen Beitrag habe ich jetzt noch einmal mit neuen Augen gelesen. Ich finde ihn sehr umfassend, und besonders gefällt mir, dass du auf die Grundproblematik der gegenseitigen Achtung so eingehst. Aus meiner Sicht zeigt sich daran auch sehr klar, wie wichtig es ist, dass sich ein Paar unabhängig von den Kindern immer wieder mit der Paarbeziehung beschäftigt. Es gibt heute schon so wunderbare Möglichkeiten, die Paarbeziehung wieder in der Tiefe zu beleben – wenn man(n und frau) es denn will. Seien dies nun Zwiegespräche mit der klaren Regel, dass alle Störungen ausgeschaltet werden und ein Paar sich regelmäßig Zeit nur für das Gespräch über die Paarbeziehung nimmt, seien es gemeinsame Seminarbesuche oder auch Familienaufstellungen, um sich darüber klar zu werden, was vielleicht störend in die Beziehung hineinwirkt. Noch nie waren die Chancen, Beziehungen wieder lebendig zu machen, so gut wie heute…..

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