Konsequenz und Machtkämpfe

Mit fast drei Jahren ist unsere Tochter im perfekten Alter für die Trotzphase. Wenn sie etwas haben möchte und es nicht binnen Sekunden bekommt, wird geschrien oder geschmollt.

Vor Kurzem waren wir zwei Wochen zu dritt im Urlaub und kamen so den ganzen Tag in den Genuss dieser Situationen. Mein sonst so gelassener Mann, der gewöhnlich aus jeder Verweigerung mit einem Augenzwinkern ganz spielerisch herausfindet, wurde plötzlich richtig sauer und sah nicht mehr ein, durch Ablenkung oder Kompromisse die Situation zu entschärfen. Der Zeitpunkt war gekommen, dass er von ‚Konsequenz und Willensdurchsetzung‘ sprach. Es war kaum Zeit, das eigene Handeln zu durchdenken. Die Situationen hat doch jeder schon mal im Film gesehen. Dort haben die Eltern fast immer gleich reagiert: 1. Du kriegst xy jetzt nicht! (Härte) 2. Wir müssen dem Kind jetzt zeigen, dass es seinen Willen nicht durchsetzen kann (Exempel statuieren, keine Kompromisse) 3. Kind bis zur Erschöpfung oder Einwilligung schreien lassen (kein Eingehen auf die Gefühlsäußerungen und den Wunsch des Kindes) => Konsequente Durchsetzung des elterlichen Willens, am besten ohne Erklärung.
In der Tat zeigt das anfangs Wirkung. Das Kind ist eingeschüchtert, verstummt irgendwann, und die Eltern denken, nun wäre klar, dass das Kind in Zukunft keinen Widerspruch mehr einlegt.
Doch das Gegenteil ist langfristig der Fall!

In unserer Verzweiflung und Rage des Moments probierten wir genau das: Sie muss jetzt begreifen, dass sie nicht alles jederzeit haben kann. Wir müssen ihr das jetzt deutlich machen, damit sie nicht jedes Mal lauthals schreit, um etwas zu bekommen.
Wir waren konsequent. Und stolz auf uns. Zugleich schmerzte mein Herz jede Minute mehr, die sie länger aufgebracht schrie. Und das meines Mannes sicher auch. Irgendwann verstummte sie schmollend.
Beim nächsten Konflikt dieser Art begann sie plötzlich, mit derselben Konsequenz und Härte auf meine Worte zu reagieren.
Wenn ich sagte, „Nein, das möchte ich nicht!“, wurde sie wütend, riss sich los, schnappte sich den Gegenstand und sagte, „Dann gehe ich jetzt weg!“. Sie imitierte unser Verhalten und wendete es selbst an. Wo waren wir nun gelandet? War das das Kind, das wir haben wollten? War dies das Verhalten, das wir unserem heranwachsenden Kind vorleben und mit auf den Weg geben wollten?
Was war geschehen?

Stellen wir uns vor, dass wir auf dem Fahrrad sitzen und uns plötzlich ein Baum den geraden Weg blockiert. Konsequenz hieße: Das ist mein Weg. Baum, du hast zu verschwinden. Und dann gnadenlos durchfahren. Wir können uns vorstellen, dass das schmerzhaft wird. Alternativ könnten wir dem Baum ganz elegant ausweichen und blieben beide unversehrt.
Im Moment der Willensbekundung eines Kindes ist es ebenso starr und unflexibel wie ein Baum. Stellen wir uns frontal gegen das Kind, reagiert es mit gleicher Härte und Verbissenheit. Es geht in einen Machtkampf mit uns, bei dem es nur einen Gewinner bzw. keinen gibt. „Gewinnen“ die Eltern, lassen sie ein verständnisloses, frustriertes, eingeschüchtertes und wütendes Kind zurück. Beim nächsten Mal wird es umso mehr um sein Recht kämpfen. Die Eltern können mit dieser Methode nur zwei Verhaltensweisen hervorrufen: Resignation oder ein ewig währender Kampf.
Wollen wir das? Wollen wir ein höriges Kind? Wollen wir ein gegen uns ankämpfendes Kind?
Wenn wir unsere Macht demonstrieren – und in den ersten Jahren haben wir mehr Macht, weil wir geistig und körperlich überlegen sind -, verlieren wir mehr und mehr unser Kind. Wir bauen Distanz auf, ein deutliches Machtgefälle.
Und irgendwann kommt der Zeitpunkt, da ist unser Kind nicht mehr schwächer. Es wird eines Tages die Mittel kennen, die uns zum „Verlierer“ machen. Lautes Kreischen in der Öffentlichkeit, Schlagen, Türenknallen, Ignoranz. Die Möglichkeiten sind grenzenlos und die Nerven der Eltern nur begrenzt strapazierfähig. Ein Kind im Machtkampf-Modus ist keine Freude mehr. Und es kann mehr und mehr eskalieren und sich in der Pubertät noch verstärken.

Wir müssen uns vorstellen, dass jeder Konflikt mit dem Kind die Liebe vertieft, wenn wir es schaffen, dem Kind bedingungslos beizustehen, ihm unsere Entscheidungen kindgerecht zu erklären und auch bei größtem Trotz ruhig zu bleiben.

Konsequenz ist kein eigenständiges Ziel. Natürlich gilt es, Grenzen konsequent zu setzen. Aber nicht wie eine Mauer aus Beton, sondern wie ein biegsamer Grashalm, dessen Ziel die Sicherheit des Kindes und die Zufriedenheit beider Interessengruppen ist. Niemand kriegt für besondere Härte einen Preis. Niemand dankt dafür. Und erst recht nicht das Kind.

Im Umgang mit einem Kind geht es natürlich nicht ohne Tränen. Jedes Kind muss lernen, dass ein Eis nicht vom Himmel fällt, sondern erst ein Eisladen gefunden und das Eis dann gekauft werden muss. Hinzu kommt, dass wir Erwachsenen einfach mehr Lebenserfahrung und Wissen haben und somit Entscheidungen treffen, die das Kind nicht in jedem Alter versteht. Dann gibt es kein oder nur wenig Rütteln an der Entscheidung der Eltern. Das wird von jedem Kind erstmal mit Empörung quittiert. Da müssen wir als Eltern durch. Das heißt jedoch nicht, dass wir das weinende Kind nun anschreien oder einsperren müssen.
Wir müssen uns fragen: Was wollen wir unserem Kind als Umgangsform in Konfliktsituationen mitgeben? In meinem Fall kann ich diese Frage damit beantworten, dass unsere Tochter bei verhärteten Fronten Kompromisse eingehen soll, um ans Ziel zu kommen, und sich nicht verbissen an etwas klammern, sondern Alternativen suchen und stets im Auge haben soll, nicht allein als Gewinner einer Situation hervorzugehen, sondern an beide Seiten zu denken.
Wie kann sie diese Verhaltensweisen erlernen, wenn wir selbst im Umgang mit ihr ganz anders handeln?
Ich behaupte nicht, dass jede Konsequenz fragwürdig ist. Es gibt Situationen, da würde ich mich immer bedingungslos durchsetzen, wenn beispielsweise Gefahr droht. Aber diese Situationen sind, ehrlich gesagt, eher selten. Meist bewegen uns Bequemlichkeit, moralische oder ideologische Vorstellungen zu Konsequenz und Härte.

Im liebevollen, sanften Weg steckt die Kraft, auch wenn dies auf den ersten Blick manchmal schwach wirkt. Dennoch müssen die Eltern klar darin bleiben, dass sie die größere Lebenserfahrung haben und im Zweifel entscheiden.

Ich bin nun dazu übergegangen, die Gefühle unserer Tochter sofort aufzugreifen und ihr mein Mitgefühl mitzuteilen. Ich sage dann: „Ich verstehe, dass du jetzt traurig und wütend bist, weil ich dir keine Schokolade geben will. Du möchtest jetzt gerne die Schokolade essen. Das habe ich verstanden. Ich möchte es aber nicht.“ Natürlich hört sie jetzt nicht sofort auf, zu weinen. Aber es geht mehr und mehr in ihr Bewusstsein über, dass 1. ich verstehe, was sie von mir möchte, 2. wie das Gefühl heißt, das sie gerade empfindet, und 3. dass ich eine Entscheidung getroffen habe, die sie so erstmal akzeptieren muss. Gleichzeitig bin ich jedoch bei ihr und verlasse sie nicht, nur weil sie gerade zornig ist. Das baut großes Vertrauen auf und vertieft die Liebe zwischen uns. Ich sage ohne Schnörkel, was ich möchte bzw. nicht möchte, zeige mein Verständnis für ihren Wunsch und bin körperlich und seelisch immer für sie da.
Es kam auch vor, dass wir auf der Autobahn fuhren, sie hinten im Auto in ihrem Kindersitz saß und plötzlich raus oder irgendetwas haben wollte, das wir ihr nicht geben konnten. Erstes Zusprechen half nichts. Sie hatte sich etwas in den Kopf gesetzt. Irgendwann drehte ich mich um, weil sie mir offensichtlich nicht zuhören wollte und nur noch schrie. Nach einer Weile wurde sie leiser, da begann ich wieder, ihr in ruhigem, freundlichem Ton zu erklären, warum es gerade nicht zu organisieren war, was sie wollte und dass wir alle einfach in einem Auto immer angeschnallt bleiben müssen. Mit feuchten Tränen sah sie mich an, schluchzte noch zweimal und fragte dann nach ihrem Kuscheltier. Ich gab es ihr und von einer Sekunde auf die andere war sie wieder fröhlich. Manchmal ist Geduld und Ruhe die beste Umgangsform mit einem zornigen Kind.

Es gibt noch einen weiteren Aspekt der Konsequenz.
Wenn es um Konsequenz geht, neigen wir oft dazu, auf die Gelegenheit zu warten, an der wir ein Exempel statuieren und dem Kind zeigen können, was es nicht darf oder was wir nicht gut finden. Doch wir sollten uns mehr angewöhnen, das Positive zu stärken, statt das Negative zu bestrafen. Das Gehirn merkt sich vor allem, wofür es Aufmerksamkeit und Zuwendung im positiven wie im negativen Sinne bekommt. Besteht unsere Kommunikation nur aus Verboten, Grenzen und Bestrafung, wird das Kind weiterhin diese ausreizen, weil es so die gewünschte Aufmerksamkeit der Eltern erhält.
Stellen wir uns vor, wir helfen jemandem beim Umzug. Doch statt sich zu freuen, meckert der Freund ständig, wir seien zu langsam. Wie oft werden wir dieser Person wohl noch einmal helfen?
Durch unseren Ausdruck von Freude stärken wir unser Kind und geben ihm im Wirrwarr der unendlich vielen möglichen Verhaltensweisen Halt. Ohne es natürlich als Manipulation zu verwenden, sondern einfach als Geste der Zuneigung und Achtung.
Wie gut würde sich also unser Kind fühlen, wenn es viel häufiger aufbauende, Kraft schenkende Worte, statt Vorwürfe und Wut hören würde? Würden wir uns da nicht auch animiert fühlen, dem anderen weiterhin eine Freude zu bereiten?
Häufig vergessen wir, unserem Kind, ebenso wie anderen Menschen, im Alltag die Freude über ein Verhalten mitzuteilen. Es wird zu einer Selbstverständlichkeit, wenn etwas klappt. Aber es ist ein Drama, wenn es falsch gemacht wird.

Leider sind wir es aus der öffentlichen Darstellung gewohnt, harte, konsequente Eltern zu sehen, die ihr Kind schreien lassen, ihm Hausarrest erteilen oder es anderweitig bestrafen. Härte ist ein Symbol von starken, selbstbewussten Eltern, die ihre Kinder unter Kontrolle haben. Dieses Bild hat sich tief in unser Gehirn eingebrannt, sodass wir kaum über Alternativen nachdenken können, wenn wir plötzlich in die Situation kommen, dem Kind seinen Willen nicht erfüllen zu können oder zu wollen und dadurch nicht auf Begeisterung stoßen. Diese „gelernten“ Verhaltensweisen, die wir meist völlig unbewusst einfach abspulen, müssen wir durchbrechen und uns bewusst vornehmen, in Kontakt, in Verbindung mit dem Kind zu bleiben und nicht gegen es zu agieren. Dann vertiefen wir die Beziehung und das Vertrauen und können immer gelassener mit Konfliktsituationen umgehen.

Interessante Ergänzung: Das geht! Erziehen ohne Lob und Strafe

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5 Gedanken zu „Konsequenz und Machtkämpfe

  1. Als unsere Tochter noch jünger war, hat es meist schon geholfen, ihre Aufmerksamkeit ganz plötzlich auf etwas Interessantes zu lenken. „Oh, schau mal, da ist ein ganz großer Vogel!“ oder „Guck mal hier, da ist ja eine winzige Ameise!“ Dabei habe ich mich auf den Boden gehockt und sie auf ein klitzekleines Detail aufmerksam gemacht. Wer kann da widerstehen? Wenn das nicht half, begann ich, ihr Fragen zu stellen: „Wo ist eigentlich dein Ohr? Ist das noch da?“ Fragen, von denen ich wusste, dass sie sie schon beantworten oder darauf zeigen konnte. Das war ein Spiel, das sie im fröhlichen Zustand mochte und sie erstaunlich gut auf andere Gedanken brachte. Gerade bei kleinen Kindern brauchen wir einen richtigen, meist plötzlichen Unterbrecher, um sie aus ihrem Wut-Gefühl zu holen, dessen Ursache sie selbst oft nicht mehr kennen.

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    • Vielen, vielen Dank! Über das Thema Loben habe ich mir schon viele Gedanken gemacht, weil ich auch immer wieder beobachtet habe, wie andere, und letztlich ich auch, jede Kleinigkeit als das größte Ereignis der Welt feierten. Ist ja auch schön, aber ich will schließlich mein Kind auch nicht zum Zirkusauffen machen. Bisher habe ich es einfach etwas reduziert bzw. entgegengewirkt, indem ich unserer Tochter auch in banalen Situationen ohne Lob Aufmerksamkeit schenke. Das macht man ja sowieso. Aber ich habe noch mal besonders darauf geachtet.

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      • Mich hat die Auseinandersetzung mit dem Thema Loben wirklich weiter gebracht! Natürlich sage ich auch mal „super“, „toll“, etc, aber eben als Ausdruck meiner Begeisterung und nicht als manipulatives Mittel (was ich dir auch nicht unterstellen möchte). Mittlerweile bin ich da auch etwas sensibel geworden und mich nervt es z.B. wenn meine Mutter z.B. so was wie „Du bist aber lieb“, „Du bist aber fleißig“, usw zu meinem Kind sagt. Das würde sie ja auch nicht zu mir sagen. Ein „Danke, dass du mir hilfst“ würde es z.B. auch tun und das Kind wäre auch auf einer persönlicheren Ebene angesprochen.
        Wirklich ein spannendes Thema!

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